Geschlossene Häfen, steigende Energiekosten, fehlende Teile – nie war die Situation in der Logistik so angespannt und unplanbar wie heute. Doch es sind auch positive Dinge daraus entstanden. Über Möglichkeiten, wieder in ruhiges Fahrwasser zu kommen, sprechen Jakub Piotrowski, CIO/CDO bei BLG LOGISTICS, und Andreas Hoberg, Managing Partner der Ingenics AG, im Interview.
Wie ist die aktuelle Situation in der Logistik?
Piotrowski: Erst kam Corona mit der Lockdownsituation, dann begannen die Verwerfungen in der Supply Chain und gleichzeitig gingen die Energiekosten in die Höhe. Das war und ist eine sehr an gespannte Situation. Auch ETA (Estimated Time of Arrival) Forecasting ist kaum noch möglich. Logistik – insbesondere Warehousing – funktioniert dann gut, wenn man planen kann und nicht ständig im Firefighting-Modus ist. Seit über zwei Jahren sind wir allerdings nur noch in einem reaktiven Modus. Da denkt man, man hat eine Sache gerade geschafft und schon steht die nächste Thematik vor der Tür. Ich merke das auch bei den Mitarbeitenden: Es geht an die Substanz.
Hoberg: Wir beobachten in der Logistik außerdem einen akuten Fachkräftemangel. Firmen – die anteilig auch die operative Logistik selbst betreiben – bekommen keine Mitarbeitenden mehr. Das erschwert die Planung zusätzlich.
Was ist die größte Herausforderung in der Supply Chain?
Piotrowski: Das Volumen, das bei der Fahrzeugfertigung vorher kontinuierlich floss, kommt jetzt schubweise in Peaks. Mal eine komplette Anlieferung, dann wieder gar nichts, dann Stillstand und Kurzarbeit bei den OEMs im Werk. Statt einer kontinuierlichen Dusche bekommt man jetzt ab und an einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet.
Hoberg: Die Schwankungen und die Unplanbarkeit sind auf Dauer anstrengend: In vielen produzierenden Unternehmen gehen Führungskräfte morgens mit der Frage ins Werk, welches Teil heute nicht geliefert werden kann. Wenn die Materialien nicht da sind, lässt sich auch die Produktion nicht planen. Das macht die Firmen mürbe.
Ziehen Sie auch positive Ergebnisse aus der aktuellen Situation?
Hoberg: Oh ja, durchaus: Die Kunden-Lieferanten-Beziehungen – bei denen es gerade in der Logistik häufig Wechsel gab – sind enger geworden. Es wird wieder wertgeschätzt, wenn ein Lieferant zuverlässig ist und Dinge möglich macht. Dann wird nicht gleich wegen ein paar Euro weniger der Lieferant gewechselt. Wir hören das auch von unseren Kunden, die an ihren Dienstleistern festhalten, weil sie deren Engagement in der aktuellen Situation sehen und honorieren. Insgesamt ist die Zusammenarbeit partnerschaftlicher geworden.
Piotrowski: Das kann ich bestätigen. Die Nähe zum Kunden ist deutlich höher als in der Vergangenheit. Und alle merken: Es geht nicht allein. Kollaboration steht oben auf der Agenda. Aus dem klassischen Kunden-Dienstleister-Verhältnis wird immer mehr eine Beziehung auf Augenhöhe.
Was zeichnet stabile Lieferketten aus?
Piotrowski: Ganz klar die Transparenz in der Supply Chain. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass man weiß, was der direkte Vorlieferant macht, sondern auch dessen Lieferkette davor. Diese Transparenz ist heute nur in wenigen Bereichen vorhanden. Im Moment wird viel darüber gesprochen, dass alles möglichst nah an den Produktionsort gezogen werden soll. Das ist der übliche Reflex, den es in der Vergangenheit bei Krisen auch schon gab. Ich glaube nicht, dass sich das Thema Dual Sourcing beziehungsweise Local Sourcing auf Dauer umsetzen lässt. Sobald sich die Situation beruhigt, ist das Thema vergessen und die Kosten werden wieder relevant. Informationen frühzeitig zu teilen, wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Durch die Transparenz können wir wieder planbarer agieren. Schwierig ist der von Herrn Hoberg erwähnte Fachkräftemangel. Vor allem wenn man kurzfristig Fachkräfte braucht, um Peak-Situationen abzufangen. Da muss sich die Logistikbranche Gedanken machen, wie Arbeitsplätze flexibilisiert und durch ebenfalls flexible Automation ergänzt werden können.
Wie kann Transparenz hergestellt werden?
Piotrowski: Es fängt ganz simpel mit Awareness an. Die Management-Ebene muss erkennen, dass durch das Teilen relevanter Informationen das Gesamtsystem besser läuft. Die Fashion-Branche macht da – auch durch das Lieferkettengesetz getrieben – schon recht viel. Andere Branchen sind noch gar nicht so weit. Und auch hier gilt: Es funktioniert nur, wenn alle mitziehen. Das nächste große Thema wird die Datenqualität sein. Zwar reden wir alle über digitale Prozesse und wir haben alle irgendwie Daten in Systemen. Aber wer prüft deren Qualität? Wie aussagekräftig oder korrekt sind die Daten? Eine Sache ist es, Daten zu teilen, eine andere, die „richtigen“ Daten zu teilen.
Hoberg: Ich glaube, dass in einigen Branchen die Stabilität der Supply Chain einfach nie ein Thema war. Im Grunde hat es ja immer funktioniert. Jetzt stellen Unternehmen – egal in welcher Branche – fest, dass es nicht einfach reibungslos weiterläuft und man teilweise in schwarze Löcher schaut. Was mir tatsächlich mehr Sorgen als die Datenqualität macht, ist, dass nach wie vor ganz viele Lieferanten innerhalb der Lieferkette gar nicht gewillt sind, Informationen preiszugeben. Ich glaube nicht, dass es eine Frage der fehlenden Technik ist, sondern eine Frage des Wollens. Mit Transparenz und damit auch Verbindlichkeit würden sich die Lieferanten einen gewissen Grad an Flexibilität nehmen.
Piotrowski: Die Transparenz führt auch zu Diskussionen. Angenommen ein Lieferant für Stecker von Kabelbäumen hat die zwei oder drei großen Kabelbaumhersteller als Kunden. Dann kommt eine Anforderung für 200 Stück, aber er hat nur noch 100 Stück da – wer bekommt nun was? Wenn alles transparent ist, wird sofort die Frage aufkommen, warum der eine mehr als der andere bekommt. Das möchte man natürlich vermeiden. Darüber hinaus sehen heutige Vertragswerke zwischen den Beteiligten in der Supply Chain den Informationsaustausch nur bedingt vor. Oftmals gibt es Dreiecksverhältnisse. Wir als Dienstleister haben einen Vertrag mit unserem Kunden und der wiederum einen Vertrag mit einem Lieferanten. Warum also sollte der Lieferant uns Daten schicken? Wir beide haben keinen Vertrag miteinander. Und die Informationen, die wichtig wären, damit wir unsere Prozesse effizient gestalten können, sendet der Lieferant nicht an den Kunden, denn der an sich braucht diese ja nicht.
Hoberg: Der Lieferant hat oftmals auch nicht die Kompetenz im Haus, um Daten transparent aufzubereiten und Ableitungen zu treffen, dafür aber der Logistikdienstleister. Nur das Vertragsverhältnis gibt eine direkte Zusammenarbeit nicht her. Meine Botschaft an die Logistikdienstleister ist, die Chance zu nutzen und Standards zu schaffen, in die der ein oder andere Kunde oder Lieferant reinkommt. Das Heft in die Hand nehmen und sagen: Wir sorgen jetzt für Transparenz. Allein ist so etwas aber nicht stemmbar – da braucht es ganz klar ein Netzwerk. Das technische Logistik-Know-how ist eine unserer Kernkompetenzen am Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb sollten wir die Chance nutzen und eine gemeinsame Plattform entwickeln.
Müssen Unternehmen ihr Risikomanagement überdenken?
Piotrowski: Ja, unbedingt. Das ist vielerorts bereits im Gange. Große Unternehmen haben aus der Not heraus versucht, mit schnell gebauten, einfachen Tools Supply-Chain-Risiken und -Auswirkungen abzudecken. Das wird jetzt in eine standardprozessuale Systematik überführt. In den letzten Jahren haben wir gemerkt, wie fragil und wie ineinander verkettet die Prozesse sind und wie kleine Abhängigkeiten ganz am Ende zu einem Bullwhip-Effekt werden. Der schlägt jetzt richtig durch, sodass es auch die Endverbraucher merken. Nämlich dann, wenn im Supermarktregal die Produkte fehlen – das gab es früher nicht. Supply-Chain-Risiken werden sicherlich auch in der Zusammenarbeit mit Lieferanten ein Thema werden. Das merken wir als Logistikdienstleister in Gesprächen mit unseren eigenen Lieferanten. Wir fragen jetzt deutlich gezielter, welche Alternativen der Lieferant anbieten kann. Das andere Thema ist die Simulation von Szenarien. Der Digitale Zwilling, der in der Fabrikplanung schon lange bekannt ist und eingesetzt wird, kommt jetzt auch in der Supply Chain an. Viele unserer Kunden denken jetzt um und nutzen diese simulierten Szenarien für die Risikobewertung.
Hoberg: Das Thema der Risikobewertung wird bei den Firmen in der nächsten Zeit sogar noch zunehmen, weil die Entschuldigungsmöglichkeiten abnehmen. Aktuell hat man noch Entschuldigungen dafür, dass bestimmte Dinge nicht kommen oder nicht funktionieren oder nicht produziert werden. Wenn es sich wieder ein Stück weit einschwingt – und das wird es, da bin ich mir sicher –, dann ist ein ganz anderer Druck da, wie mit Risiken umgegangen wird. Wer dann nicht liefern kann, hat ein Problem und verliert Marktanteile. Wir werden wieder einen Stabilitätszustand haben. Meine Befürchtung ist allerdings, dass wir nicht mehr auf unser gewohntes Maß des Kosten-Nutzen-Verhältnisses zurückkommen. Es wird vermutlich etwas teurer werden.
Piotrowski: Mehrere Effekte wie steigende Energie- und Lohnkosten kommen zusammen und führen insgesamt zu höheren Preisen. Hinzu kommen noch die Themen Klimaschutz und Emissionsreduzierung, die schon vor der Pandemie aktuell waren. Schon immer war klar: Wer emissionsärmer produzieren möchte, muss investieren. Klimaschutz kostet eben Geld, genauso wie Flexibilität.
Wie weit sind Logistikunternehmen beim simulativen Ansatz?
Piotrowski: Noch ganz am Anfang. Viele wagen sich nicht an die Umsetzung, weil das Thema nicht greifbar ist. Nach meinem Verständnis ist ein Digitaler Zwilling in der Supply Chain eine Abbildung von einzelnen logistischen Objekten, die die Fähigkeit haben, Zustandsinformationen wiederzugeben, aber auch simulativ zu arbeiten. Man ist auf Informationen von allen Beteiligten der Supply Chain angewiesen. Das Thema der Schnittstellen ist deshalb enorm. Wenn man heute anfängt, die Datenlogistik – nicht den Materialfluss – aufzubauen, wird das ein riesiges Spaghetti-Diagramm. Die Herausforderung ist, diese Abläufe möglichst effizient auf einer Ebene abzubilden, ohne sich in Details zu verlieren.
Hoberg: Da braucht es mutige Vorreiter. Das ein oder andere Pilotprojekt gibt es bereits. Die Frage ist, welchen Teil der Supply Chain man betrachten möchte. Oftmals wird zu allumfassend gedacht, statt von der Problemstellung her zu kommen und an einer konkreten Stelle etwas aufzubauen. Der simulative Ansatz wird in der Logistik auf jeden Fall kommen.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Hoberg: Der Druck – ob Risikomanagement, Flexibilität oder Nachhaltigkeit – rückt das Thema Gesamteffizienz in eine andere Perspektive. Aktuell gehen viele Unternehmen das Thema mit Verweis auf die aktuelle Situation noch nicht an. Wir raten den Unternehmen im Produktions- und Logistikumfeld jedoch dringend, eine Roadmap für die nächsten drei bis vier Jahre zu erarbeiten. Wo sind Effizienzsteigerungen in den Bereichen Administration, Produktion und Unterstützung möglich? Nur die Hand zu heben und zu sagen, dass alles mehr kostet, wird nicht funktionieren. Aus meiner Sicht ist dazu in den letzten Jahren zu wenig passiert.
Piotrowski: Ja, und auch nicht mit der nötigen Geschwindigkeit. Das merkt man besonders an den Digitalisierungsaktivitäten. Zumindest sind Kunde und Dienstleister näher zusammengerückt. Es bringt nichts, wenn ich beispielsweise eine KI-basierte Personalplanung habe, aber die Forecast-Zahlen des Kunden nicht stimmen. Leider wurden viele Themen, die effizienzsteigernd sind – häufig innovative, aber auch simple Digitalisierungsthemen – bisher nur halbherzig angegangen. Es ging ja vorher auch so. Meist sind es drei Punkte, die eine Veränderung herbeiführen: Eine Vision zu haben, dann die ersten Schritte zu kennen und letztendlich den Leidensdruck zu haben – und der hat gefehlt. Davor mussten immer alle Eventualitäten abgedeckt und die Lösung 120 Prozent sicher sein. In der jetzigen Situation werden aber auch 80-Prozent-Lösungen genommen, weil die eben mehr sind als gar nichts.
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