In der Hoffnung, dass der Spuk in 2-3 Wochen wieder vorbei ist, entschieden wir uns, unsere über 150 Kollegen ab der nächsten Woche vollständig aus dem Homeoffice arbeiten zu lassen. Waren wir gut darauf vorbereitet?
Michael Böhl, LIHH-Experte für Digitalisierung
Seit 8 Jahren engagiert sich Michael Böhl (CGI) bei der LIHH und gehört unserem Expertenpool an. Sein Schwerpunkt ist die Digitalisierung. Heute schreibt / kommentiert er seinen persönlichen Blick auf die aktuellen Entwicklungen und die Rolle der Digitalisierung in der „neuen Normalität“.
März 2020
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit meiner Familie die Hamburger Frühjahrsferien 2020, wie auch in den letzten Jahren, an der Nordsee in Dänemark verbracht habe. Wie immer war es eine tolle Zeit, die wir viel am Strand verbrachten – viel analog, wenig digital.
Ab und zu las ich doch ein paar News online, dabei fiel mir auf, dass mehr und mehr über einen neuen Virus berichtet wurde. Meinen Twitter Account hatte ich im letzten Jahr wenig genutzt. Mich hat einfach irgendwann das viele Schimpfen gestört. Als ich ihn reaktivierte war klar, dass es nur noch ein Thema gab – das Virus.
Täglich war ich nun mit meinem Team im Austausch. Was sollten wir tun? Als klar wurde, dass die Lage sich immer weiter zuspitzt und auch die ersten Länder, darunter auch Dänemark, ihre Grenzen schlossen – entschieden wir uns, in der Hoffnung, dass der Spuk in 2-3 Wochen wieder vorbei ist, unsere über 150 Kollegen ab sofort vollständig aus dem Homeoffice arbeiten zu lassen. Waren wir gut darauf vorbereitet? Technisch ja! Alle Mitarbeiter hatten Laptop, Telefon und waren es gewohnt von Zeit zu Zeit mobil zu arbeiten.
Als wir an einem Samstag Dänemark auf dem Heimweg nach Hamburg verließen wurde um 12:00 Uhr die Grenze von Deutschland nach Dänemark geschlossen. Um 12:05 Uhr passierten wir den Grenzübergang. Ein Kamerateam auf deutscher Seite filmte das Geschehen. Zwei LKW warteten auf die Einreise nach Dänemark. Der „Lockdown“ war Realität geworden.
Juli 2020 die Erkenntnis: Digitalisierung ist kein Selbstzweck
Im Juli konnten wir wieder nach Dänemark einreisen – was für ein toller Moment. Die letzten Wochen haben mich aber auch zum Nachdenken über die Digitalisierung gebracht. Das schwierige an Digitalisierung ist, dass der Begriff nicht eindeutig definiert und verwendet wird. Eigentlich meint jeder jedes Mal etwas anderes, wenn der Begriff verwendet wird. Ich möchte mich jetzt nicht darin versuchen den Begriff abermals zu definieren, sondern anhand von Beispielen aufzeigen wie Digitalisierung sich in den letzten Wochen gezeigt hat. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie hat aber in den letzten Wochen stark dazu beigetragen, die Art und Weise wie wir arbeiten zu verändern.
Der neue digitale Arbeitsplatz
Viele Büroarbeitsplätze wurden seit März 2020 ins Homeoffice verlagert. Eine enorme Leistung vieler IT-Abteilungen, die es quasi „über Nacht“ ermöglicht haben remote zu arbeiten. Theoretisch kann nun von jedem Ort der Welt mit einer guten Internetverbindung auf die Firmenanwendungen zugegriffen werden. In den letzten Wochen war die große weite Welt, jedenfalls bei den Meisten im heimischen Büro oder Wohnzimmer.
Arbeitnehmer wollen auch zukünftig mehr als 30% ihrer Zeit im Homeoffice verbringen
Der Wechsel und die Arbeit aus dem Homeoffice haben für viele Beteiligten erstaunlich gut geklappt. Viele Führungskräfte waren positiv davon überrascht. In den letzten Jahren zählte bei vielen Unternehmen die physische Präsenz vor Ort und war ein Prädikat für Leistungsfähigkeit. So haben wir doch in den letzten Wochen gelernt, dass sehr wohl auch gut verteilt gearbeitet werden kann.
Schrittweise wird in vielen Unternehmen aktuell in Büros zurückgekehrt oder darüber nachgedacht. Noch führen die aktuellen Regeln zum Infektionsschutz zu einer geringeren Auslastung von Büros. Jedoch überlegen viele Unternehmen in absehbarer Zeit wieder mit der vollen Belegschaft ins Büro zurück zu kehren.
Das ist aus meiner Sicht zu kurz gedacht. Aktuelle Umfragen zeigen, dass Arbeitnehmer sich auch zukünftig wünschen mehr als 30% ihrer Arbeitszeit im Homeoffice zu verbringen.
Unternehmen sollten diesen Wunsch berücksichtigen und sich die Frage stellen, wie sie in Zukunft arbeiten wollen. Dies beinhaltet unter anderem Antworten auf die Fragen: Wie sieht mein Büro in Zukunft aus? Welche organisatorischen und technischen Voraussetzungen muss ich schaffen? Welche Prozesse sind aktuell nicht digitalisiert und wie kann ich meine Unternehmensprozesse digital neu denken?
Für mein Team gehe ich aktuell davon aus, dass alle Mitarbeiter 2 bis 3 Tage aus dem Homeoffice arbeiten und sich die restlichen Tage mit ihren Teams im Büro verabreden.
Videokonferenzen den ganzen Tag
Aufgrund der Verlagerung des Arbeitsmittelpunkts in das Homeoffice ist die Anzahl an Videokonferenzen in den letzten Wochen förmlich explodiert. Microsoft sprach beispielsweise von über 500% mehr Teams Meetings und bei ZOOM haben sich die Downloadraten alleine im Apple Store seit März mehr als verzehnfacht.
In meiner täglichen Arbeit habe ich beobachtet, dass ich vor der Corona Zeit ca. 20% meiner digitalen Meetings per Video durchgeführt habe. Aktuell sind es zwischen 60%-80% und ich glaube, dass es auch in Zukunft deutlich mehr Videokonferenzen geben wird. Auf der einen Seite, weil viele Menschen in der letzten Zeit gute Erfahrungen damit gemacht haben und weil wir in Zukunft deutlich mehr hybride Meetings haben werden – bei denen sich ein Teil physisch an einem Ort trifft und weitere Teilnehmer dann digital dazu kommen. In der neuen Welt ist also immer jemand nicht vor Ort, aber trotzdem „anwesend“, so dass wir uns darauf arbeitstechnisch einstellen werden.
Für viele Berufspendler hat die Verlagerung ins Homeoffice zum Wegfall von Wegezeiten geführt. Sicherlich für viele ein positiver Aspekt. Jedoch haben sich beispielweise auch die Zeiten zwischen Meetings sehr stark verkürzt. Dies führt dazu, dass der Wechsel zwischen digitalen Meetings im Sekundentakt stattfindet und das nächste Meeting nur einen Klick weit entfernt ist. 5 Minuten auf Fluren oder im Treppenhaus, in denen sich die Gedanken sortieren lassen und der Stoffwechsel in Gang gehalten wird, entfallen.
Digitale Entschleunigung – geh doch mal offline
Hier sind Führungskräfte gefordert für eine digitale Entschleunigung zu sorgen, um Freiräume für konzentriertes Arbeiten zu schaffen. Die technischen Voraussetzungen gibt es. So können jeder Laptop und jedes Handy offline gehen – jedoch muss in einem Unternehmen eine entsprechende Kultur existieren und von den Führungskräften vorgelebt werden. Ein schlechtes Beispiel ist eine Führungskraft, die rund um die Uhr innerhalb von 5 Minuten eingehende Mails beantwortet.
Digitale Etikette
Hand aufs Herz – Wer hat in den letzten Wochen nicht schon einen peinlichen Moment in Videokonferenzen erlebt. Ich meine nicht die Momente in denen Kinder schauen was ihre Mama oder Papa den ganzen Tag so machen. Sondern die Momente, wenn an einem „Bad Hair Day“ die Kamera angemacht wird oder man direkt durch die Nase des Gesprächspartners sehen konnte, was er denkt. Das muss nicht sein und ist auch wenig professionell.
Ein professionelles Auftreten sollte auch in einer Videokonferenz eine Selbstverständlichkeit sein. Also bringt bitte Eure Kameras auf Augenhöhe, schaut beim Sprechen in die Kamera und sorgt für ausreichend Licht – Eure Gesprächspartner werden es Euch danken. Und liebe Hersteller von Laptops: Bitte baut in der nächsten Laptop Generation noch bessere Kameras ein, die weniger pixelig und unscharf sind. Danke!
Im Netz gibt es eine Vielzahl von Tutorials für Videokonferenzen. Beispielhaft sei hier das Tutorial von Rainer Wolf genannt.
Keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Datenautobahn
Was die letzten Wochen eindrucksvoll gezeigt haben ist, warum der Ausbau der digitalen Netzinfrastruktur, also unserer digitalen Datenautobahn, neben der analogen Netzinfrastruktur (Schiene, Straße) sehr wichtig ist. Bei uns zu Hause sind wir mit 100 Mbit/s an die Datenautobahn angeschlossen. In Hoch-Zeiten, wenn die ganze Familie online gearbeitet hat, war die Leitung schon sehr stark ausgelastet und traditionell am Freitag sowie gegen Abend gab es einen Stau auf der Datenautobahn. Hier sind die Netzbetreiber und die Politik gefordert dafür zu sorgen, dass unsere Daten auch in Zukunft ohne Geschwindigkeitsbegrenzung reisen können und jeder Zugang zu solch einem Hochleistungsnetzwerk hat.
Die Menge der Datenpakete hat sich in den letzten Wochen geradezu exponentiell entwickelt. Wenn ich da auf unser Datenvolumen zu Hause schaue, hat es sich seit März auf ca. 500 GB Datenvolumen pro Monat fast verdoppelt. Das sind über 100 DVDs voll mit Daten. Mein erstes Modem aus dem Jahr 1993 mit einer Übertragungsrate von 14,4 Kilobit hätte für die Übertragung der gleichen Datenmenge mehr als 500 Jahre gebraucht.
Viele technische Entwicklungen über die letzten 30 Jahre und früher haben erst die Digitalisierung wie wir sie heute erleben möglich gemacht und doch haben die letzten Monate stark zur Beschleunigung der Digitalisierungsinitiativen beigetragen. Das Tempo müssen wir beibehalten.